- Die Zwangsvertreibung der Bewohner*innen von drei Flüchtlingslagern im Westjordanland durch die israelische Regierung im Januar und Februar 2025 stellt ein Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.
- Die Genfer Konventionen verbieten die Zwangsvertreibung von Zivilist*innen aus einem besetzten Gebiet, außer vorübergehend aus zwingenden militärischen Gründen oder zur Sicherheit der Bevölkerung. Vertriebenen Zivilist*innen steht Schutz, Unterkunft und ein Rückkehrrecht zu, sobald die Kampfhandlungen in der Umgebung enden.
- Hochrangige israelische Regierungsvertreter, darunter Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Israel Katz, sollten wegen der Operationen in den Flüchtlingslagern strafrechtlich untersucht und angemessen wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich verfolgt werden. Regierungen sollten gezielte Sanktionen verhängen und dringend Maßnahmen ergreifen, um die israelischen Behörden unter Druck zu setzen, ihre repressiven Politiken zu beenden.
(Jerusalem) – Die Zwangsvertreibung der Bewohner*innen von drei Flüchtlingslagern im Westjordanland durch die israelische Regierung im Januar und Februar 2025 stellen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Den rund 32.000 Menschen, die Berichten zufolge vertrieben wurden, wird nicht mehr erlaubt zurückkehren. Viele ihrer Häuser wurden von israelischen Streitkräften vorsätzlich zerstört.
Der 105-seitige Bericht „‚All My Dreams Have Been Erased‘: Israel’s Forced Displacement of Palestinians in the West Bank“ (dt.: Alle meine Träume wurden ausgelöscht: Israels Zwangsvertreibung von Palästinensern im Westjordanland) beschreibt detailliert die „Operation Iron Wall“, eine israelische Militäroperation in den Flüchtlingslagern Jenin, Tulkarem und Nur Shams, die am 21. Januar 2025 begann, wenige Tage nach Bekanntgabe eines vorübergehenden Waffenstillstands im Gazastreifen. Die israelischen Streitkräfte forderten die Zivilbevölkerung abrupt auf, ihre Häuser zu verlassen, unter anderem mit Lautsprechern, die auf Drohnen montiert waren. Zeugen zufolge bewegten sich die Soldaten methodisch durch die Lager, stürmten Häuser, plünderten Grundstücke, verhörten Bewohner*innen und zwangen schließlich alle Familien zur Räumung.
„Anfang 2025 haben israelische Behörden 32.000 Palästinenser gewaltsam aus ihren Häusern in Flüchtlingslagern im Westjordanland vertrieben, ohne Rücksicht auf internationale Rechtsvorschriften zu nehmen, und ihnen die Rückkehr verweigert“, sagte Nadia Hardman, leitende Forscherin für Flüchtlings- und Migrationsrechte bei Human Rights Watch. „Während die Weltöffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit auf Gaza richtete, haben israelische Streitkräfte im Westjordanland Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberung begangen, die untersucht und strafrechtlich verfolgt werden sollten.“
Human Rights Watch hat 31 vertriebene palästinensische Geflüchtete aus den drei Lagern interviewt und Satellitenbilder sowie Abrissverfügungen des israelischen Militärs analysiert, die die weitreichende Zerstörung bestätigen. Darüber hinaus wurden Video- und Fotomaterial der israelischen Militäroperationen geprüft und verifiziert.
Am 21. Januar stürmten israelische Streitkräfte das Flüchtlingslager Jenin und setzten Apache-Hubschrauber, Drohnen, Bulldozer und gepanzerte Fahrzeuge ein, um Hunderte Bodentruppen zu unterstützen, die die Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Bewohner*innen berichteten Human Rights Watch, wie Bulldozer Gebäude zerstörten, während sie vertrieben wurden. Ähnliche Operationen fanden am 27. Januar im Flüchtlingslager Tulkarem und am 9. Februar im nahe gelegenen Lager Nur Shams statt.
Das israelische Militär stellte den vertriebenen Bewohner*innen weder Unterkünfte noch humanitäre Hilfe zur Verfügung. Viele suchten Zuflucht in den überfüllten Häusern von Verwandten oder Freund*innen oder wandten sich an Moscheen, Schulen und Hilfsorganisationen.
Eine 54-jährige Frau berichtetet, wie israelische Soldaten „herumschrien und überall Dinge umherwarfen … Es war wie eine Filmszene – einige trugen Masken und waren mit allen möglichen Waffen ausgerüstet. Einer der Soldaten sagte: ‚Ihr habt hier kein Haus mehr. Ihr müsst gehen.‘“
Seit den Razzien verweigern die israelischen Behörden den Bewohner*innen das Recht auf Rückkehr in die Lager, selbst wenn keine aktiven Militäroperationen in der Nähe stattfinden. Israelische Soldaten haben auf Menschen geschossen, die versuchten, ihre Häuser zu erreichen, und nur wenige durften ihre Habseligkeiten abholen. Das Militär hat Flächen planiert, gerodet und geräumt, offenbar um breitere Zugangswege innerhalb der Lager zu schaffen, und alle Eingänge blockiert.
Eine Analyse von Satellitenbildern durch Human Rights Watch ergab, dass sechs Monate später mehr als 850 Häuser und andere Gebäude in den drei Lagern zerstört oder stark beschädigt waren. Die Bewertung konzentrierte sich ausschließlich auf Gebiete mit massiver Zerstörung, mit vollständig zerstörten oder schwer beschädigten Gebäuden – oft aufgrund der Verbreiterung von Zufahrtswegen und Straßen in den dicht bebauten Lagern.
Eine vorläufige Auswertung von Satellitenbildern durch das Satellitenzentrum der Vereinten Nationen vom Oktober 2025 ergab, dass 1.460 Gebäude in den drei Lagern beschädigt wurden, darunter 652 mit Anzeichen moderater Schäden.
Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) errichtete die drei Lager Anfang der 1950er Jahre für Palästinenser*innen, die nach der Gründung Israels 1948 aus ihren Häusern vertrieben worden waren oder fliehen mussten. Diese Flüchtlinge – die Vertriebenen und ihre Nachkommen – lebten seitdem dort.
Gemäß Artikel 49 der Vierten Genfer Konvention, der in einem besetzten Gebiet gilt, ist die Vertreibung von Zivilist*innen verboten, sofern diese nicht vorübergehend aus zwingenden militärischen Gründen oder zur Sicherheit der Bevölkerung nötig ist. Vertriebene Zivilist*innen haben Anspruch auf Schutz und angemessene Unterbringung. Die Besatzungsmacht hat die Pflicht die Rückkehr der Vertriebenen sicherzustellen, sobald keine Kampfhandlungen mehr in dem entsprechenden Gebiet stattfinden.
Israelische Beamte erklärten in einem Schreiben an Human Rights Watch, dass die Operation „Iron Wall“ „angesichts der von diesen Lagern ausgehenden Sicherheitsbedrohungen und der wachsenden Präsenz terroristischer Elemente in ihnen“ eingeleitet wurde. Allerdings haben die israelischen Behörden nach Feststellungen von Human Rights Watch keinen erkennbaren Versuch unternommen darzulegen, dass ihre einzige praktikable Option die vollständige Vertreibung der Zivilbevölkerung war, um ihr militärisches Ziel zu erreichen, oder warum sie den Bewohner*innen die Rückkehr untersagt haben.
Die israelische Regierung hat auf Anfragen von Human Rights Watch, wann Israel den Palästinenser*innen die Rückkehr gestatten werde, nicht geantwortet. Finanzminister und Minister im Verteidigungsministerium Bezalel Smotrich sagte im Februar, dass die Lager „unbewohnbare Ruinen“ werden würden, wenn die Bewohner*innen „ihre Terrorakte fortsetzen“, und dass „[d]ie Bewohner gezwungen sein werden, auszuwandern und in anderen Ländern ein neues Leben zu suchen“.
Die von den Behörden gewaltsam durchgeführte Vertreibung der Palästinenser*innen aus den Flüchtlingslagern kommt einer ethnischen Säuberung gleich, einem nicht-juristischen Begriff, der die unrechtmäßige Vertreibung einer ethnischen oder religiösen Gruppe aus einem Gebiet durch eine andere ethnische oder religiöse Gruppe beschreibt.
Die Razzien wurden in einer Zeit durchgeführt, in der die gesamte Aufmerksamkeit auf Gaza gerichtet war, wo israelische Behörden Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit – darunter Zwangsvertreibung und Ausrottung – sowie Völkermordhandlungen begangen haben.
Seit den von der Hamas angeführten Angriffen vom 7. Oktober 2023 im Süden Israels haben israelische Streitkräfte fast 1.000 Palästinenser*innen im Westjordanland getötet. Die israelischen Behörden haben den Einsatz von Administrativhaft ohne Anklage oder Gerichtsverfahren, die Zerstörung palästinensischer Häuser und den Bau illegaler Siedlungen verstärkt, während die staatlich unterstützte Gewalt durch Siedler und Folterungen palästinensischer Häftlinge ebenfalls zunehmen. Zwangsvertreibungen und andere Repressionen gegen Palästinenser*innen im Westjordanland sind Teil der Verbrechen gegen die Menschlichkeit der israelischen Behörden in Form von Apartheid und Verfolgung.
Hochrangige israelische Beamte sollten wegen ihres Vorgehens in den Flüchtlingslagern strafrechtlich verfolgt und, sofern sie für schuldig befunden werden, wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einschließlich der Befehlsverantwortung, angemessen strafrechtlich belangt werden. Zu den Personen, gegen die ermittelt werden sollte, gehören Generalmajor Avi Bluth, der Kommandeur des Zentralkommandos, der für die Militäroperationen im Westjordanland verantwortlich war und die Razzien in den Lagern sowie die Abrissbefehle beaufsichtigte; Generalleutnant Herzi Halevi und Generalleutnant Eyal Zamir, die beide als Stabschefs der israelischen Streitkräfte dienten; Minister im Verteidigungsministerium Bezalel Smotrich, der Mitglied des Sicherheitskabinetts ist und auch als Finanzminister fungiert; Verteidigungsminister Israel Katz; sowie Premierminister Benjamin Netanjahu.
Die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) und die Justizbehörden weltweit sollten gemäß dem Grundsatz des Weltrechtsprinzips gegen israelische Amtsträger ermitteln, die nachweislich in Gräueltaten im Westjordanland verwickelt sind, auch im Hinblick auf ihre Befehlsverantwortung.
Regierungen sollten gezielte Sanktionen gegen Bluth, Zamir, Smotrich, Katz, Netanjahu und andere israelische Beamte verhängen, die an den anhaltenden schweren Menschenrechtsverletzungen in den besetzten palästinensischen Gebieten beteiligt sind. Sie sollten außerdem Druck auf die israelischen Behörden ausüben, damit diese ihre repressive Politik beenden, sowie ein Waffenembargo verhängen, Präferenzhandelsabkommen mit Israel aussetzen, den Handel mit illegalen Siedlungen verbieten und die Haftbefehle des IStGH vollstrecken.
„Israels eskalierende Übergriffe im Westjordanland unterstreichen, warum Regierungen trotz des fragilen Waffenstillstands im Gazastreifen dringend verhindern sollten, dass die israelischen Behörden ihre Unterdrückung der Palästinenser weiter verschärfen“, sagte Hardman. „Sie sollten gezielte Sanktionen gegen Premierminister Netanjahu, Verteidigungsminister Katz und andere hochrangige Beamte verhängen, die für schwere Verbrechen gegen Palästinenser verantwortlich sind, und alle Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs vollstrecken.“